Sind Genossenschaften Teil vom Sozialen Unternehmertum?

Das vielfältige Soziale Unternehmertum (Social Entrepreneurship) kann verschiedene Rechtsformen einnehmen, wie eine AG, GmbH oder die traditionell in der Schweiz stark verankerte Genossenschaft.
Wichtig ist, dass diese Unternehmen mit ihrer Wirtschaftsweise eine positive Wirkung auf die Gesellschaft anstreben. Genossenschaften sind von der Rechtsform her gut geeignet für Soziales Unternehmertum. Sie können einen engeren Nutzerkreis (gemeinsame Selbsthilfe der GenossenschafterInnen), einen breiteren Nutzerkreis (gesellschaftliche Mission) oder beides im Fokus haben. Wenn die gesellschaftliche Mission für die Genossenschaft wichtig ist, gibt es eine Überlappung zum Sozialen Unternehmertum.
Es stellt sich also die Frage: Welche und wie viele der Genossenschaften können zum Sozialen Unternehmertum gezählt werden?
Ueli Löffel, Doktorand am Institut für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschafts-Management der Universität Freiburg hat sich dieser Frage im Rahmen der Studie Aktuelle Entwicklungen im Genossenschaftsmanagement* intensiv gewidmet. Im Interview mit CooperativeSuisse spricht er über die Ergebnisse seiner Forschung.
CooperativeSuisse: Nach welchen Kriterien aus wissenschaftlicher Literatur und Praxis kann man Soziales Unternehmertum definieren?
Ueli Löffel: Die Landschaft des sozialen Unternehmertums ist sowohl im europäischen Raum als auch in der Schweiz vielfältig. Dementsprechend gibt es auch in der Schweiz keine allgemein verwendete Definition sozialen Unternehmertums. Zudem wird der Begriff in den verschiedenen Landesteilen der Schweiz unterschiedlich verwendet. Während im französischsprachigen Teil eher die französische Tradition und das Konzept der Sozial- und Solidarökonomie Verbreitung findet, wird der Begriff des sozialen Unternehmertums im deutschsprachigen Teil häufig mit Sozialfirmen assoziiert.
In der akademischen Literatur werden unterschiedliche Definitionen verwendet, welche die Vielfalt des sozialen Unternehmertums wiederspiegeln. Eine verbreitete Definition ist jedoch diese des europäischen Forschungsnetzwerkes zu sozialem Unternehmertum (EMES). Die Definition wurde dabei von einem interdisziplinären Forschungsteam entwickelt und trägt auch den unterschiedlichen Traditionen sozialen Unternehmertums in den verschieden Ländern Rechnung. In unserer Studie haben wir uns an diese EMES-Kriterien gehalten, die ökonomische, soziale bzw. ökologische sowie Aspekte der Partizipation umfassen. Diese Kriterien decken sich auch grösstenteils mit den Prinzipien des Sozialen Unternehmertums von CooperativeSuisse.
Welches sind die drei Kriteriengruppen sozialen Unternehmertums in der Studie?
Die ökonomischen Kriterien erlauben eine Abgrenzung sozialer Unternehmen von anderen Organisationen im NPO-Bereich oder öffentlichen Institutionen. Gegeben sein muss eine Markttätigkeit in Form der Güterproduktion oder Verkauf von Dienstleistungen, eine Mindestanzahl an bezahlten Mitarbeitern (als Abgrenzung zu freiwilliger oder ehrenamtlicher Arbeit) sowie das Eingehen und Verantworten ökonomischer Risiken.
Die zweite Dimension erfasst die soziale oder ökologische Ausrichtung der Unternehmung bzw. deren Beitrag für die Allgemeinheit und besteht aus einer entsprechenden Mission und einer limitierten Gewinnausschüttung.
Die dritte Dimension umfasst die partizipative Gouvernanz der Unternehmung und besteht aus einem hohen Partizipationsgrad der betroffenen Gruppen (Stakeholder), welcher zudem nicht abhängig vom Kapitalbesitz sein darf. Das Unternehmen sollte zudem autonom in der Entscheidungs- und Handlungskompetenz sein und damit nicht direkt oder indirekt von einer öffentlich-rechtlichen oder anderen Institution geführt werden.
Auf welcher Datenbasis beruht Ihre Studie?
Bei der gemeinsam mit CooperativeSuisse durchgeführten Studie wurden alle ca. 8’000 Genossenschaften der Schweiz kontaktiert. Innerhalb einer ersten Erhebung im Frühjahr 2019 wurden die Genossenschaften dazu eingeladen, einen Fragebogen brieflich oder online auszufüllen. Bei einzelnen Gruppen wurde im Herbst 2019 eine Nacherhebung per Mail durchgeführt.
Die vorliegende Analyse zum sozialen Unternehmertum basiert auf diesem Datensatz (inkl. Nacherhebung) mit insgesamt 879 Genossenschaften, was einer Rücklaufquote von 11% entspricht. Die verschiedenen Branchen werden bezüglich Rücklauf ziemlich gut abgebildet, einzig die Finanzdienstleister und Infrastrukturgenossenschaften sind übervertreten. Auch die Sprachregionen sind ungefähr gleich häufig vertreten.
Wie würden Sie die Haupterkenntnisse aus Ihrer Studie zusammenfassen?
Gemäss unserer Analyse erfüllen jeweils rund die Hälfte der Genossenschaften in der Stichprobe eines der Kriterien sozialen Unternehmertums. Dies bedeutet, dass sich jeweils die Hälfte der Genossenschaften über Marktleistungen finanziert und bezahlte Mitarbeitende hat, die soziale oder ökologische Mission ein signifikantes Ziel ist oder Stakeholder bei wichtigen Entscheiden auch ausserhalb der Generalversammlung mit einbezogen werden.
Die Ausprägung der einzelnen Kriterien ist, nicht überraschend, auch abhängig vom Genossenschaftszweck: während die wirtschaftlichen Kriterien bei Banken, Konsumgenossenschaften und Dienstleistungsgenossenschaften im Vordergrund stehen, sind die soziale oder ökologische Mission vor allem bei Wohnbaugenossenschaften, Energiegenossenschaften, im Kulturbereich sowie in der Sozialwirtschaft vorhanden.
Eine besonders hohe Mitwirkung der Genossenschafter oder der angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter findet sich vor allem bei Bau- und Produktionsgenossenschaften.
Alle drei Kriterien zusammen erfüllen jedoch nur 94 Genossenschaften oder jede 9. Genossenschaft in der Stichprobe. Nur diese entsprechen damit einer engen Definition des sozialen Unternehmertums.
Was ist der Hauptgrund, warum nur ein kleiner Teil der Genossenschaften im engeren Sinne als Teil vom Sozialen Unternehmertum angesehen werden kann?
Es können verschiedene Gründe angeführt werden, die eng mit dem genossenschaftlichen Zweck verbunden sind.
Ein Teil der Genossenschaften erfüllt das wirtschaftliche Kriterium nicht, da keine Mitarbeitende beschäftigt werden oder in gemeinsamer Selbsthilfe bspw. Wohnraum oder Infrastruktur angeboten wird, ohne dass diese über Marktleistungen finanziert werden.
Zudem steht bei Genossenschaften traditionell nicht die Erfüllung einer gesellschaftlichen oder ökologischen Mission für die Allgemeinheit im Vordergrund, sondern die Interessen der Genossenschafter selbst, obwohl sich diese durchaus mit der Erfüllung eines allgemeinen sozialen oder ökologischen Zwecks überschneiden können. Beispielhaft können Wohnbaugenossenschaften genannt werden, die primär einen direkten Nutzen für ihre Mitglieder stiften, aber indirekt auch durch eine ökologische Bauweise, soziale Integration oder die Organisation kultureller Veranstaltungen über dem Kreis der Genossenschafterinnen und Genossenschafter hinauswirken.
Die Abgrenzung zwischen sozialen oder ökologischen Zielen für die Allgemeinheit und Selbsthilfe scheint insgesamt bei Genossenschaften nicht sehr trennscharf zu sein und verschwindet immer mehr, je offener der Nutzerkreis der genossenschaftlichen Leistungen ist.
Was sind die Schwierigkeiten der Interpretation der Resultate, oder anders gefragt: wo gibt es Vorbehalte?
Ein Grossteil der Genossenschaften erfüllt zwar einzelne Kriterien sozialen Unternehmertums, aber nur wenige alle drei Kriterien zusammen. Daraus abzuleiten, dass nur wenige Genossenschaften zum sozialen Unternehmertum gezählt werden können scheint mir eine verkürzte Betrachtung. Vielmehr scheint es, dass eine zu rigide Anwendung des Analyserahmens den Genossenschaften nicht unbedingt gerecht wird. Zudem stellt sich bezüglich des Kriteriums der sozialen oder ökologischen Mission die Frage, inwieweit zwischen Zielen der Genossenschafter und sozialen und ökologischen Zielen für die Allgemeinheit unterschieden werden kann.
Bei der Analyse ist weiter zu beachten, dass dieses Resultat und insbesondere die Kriterien der sozialen/ökologischen Ausrichtung sowie der partizipativen Gouvernanz auf einer subjektiven Einschätzung beruhen.
Ueli Löffel ist Doktorand am VMI und forscht zum Thema Genossenschaften. Zuvor war er Hochschulpraktikant sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Direktion für Wirtschaftspolitik beim Staatssekretariat für Wirtschaft. Er studierte Volkswirtschaft und Öffentliches Recht und Philosophie an der Universität Bern.
*Die weiteren Befunde der Studie werden in einer Artikelserie auf dem CooperativeSuisse-Blog in den kommenden Wochen veröffentlicht.